Der Hohenemser Jurist, Versicherungsagent und Privatgelehrte Matthias Jäger hat ein bemerkenswertes Buch geschrieben. Eine rasante philosophiegeschichtliche Erzählung, in der er Menschen und Mächte aus 2500 Jahren mittel- und westeuropäischer Geschichte Revue passieren lässt. Ein geistiges Panorama, entstanden auf der Suche nach gültigen Antworten für heute und kommende Zeiten.
Auf 550 Seiten und gegliedert in 117 Kapitel bekommt das „geistige Auge“ einiges vor- geführt. Mit Siebenmeilenstiefeln „eilt die Zeit im Sauseschritt und wir, wir eilen munter mit“, dichtete Wilhelm Busch. In unzähligen Figuren, Gestalten und Szenen der abendländischen Geistesgeschichte zeichnet der Autor dieses bemerkenswerten Buches die Wege der Vernunft nach bis an die Grenze zu ihrem letzten Schritt. Der Buchtitel ist ein berühmter Gedanke des französischen Philosophen Blaise Pascal (1623-1662), in dessen Werk die Möglichkeit des Glaubens an Gott – der Schritt über die Vernunft hinaus – einen hohen Stellenwert hat.
Es geht um das „kollektive Bewusstsein“ in das jede/r eingebunden ist – man kann auch sagen: „in dem jeder verhaftet ist“. Man könnte auch von Tradition sprechen. Das abendländische Panoptikum beginnt mit Sokrates (4. Jh. v. Chr.) und endet mit dem deutschen Bundeskanzler Willy Brandt (7. Dezember 1970: Kniefall im Warschauer Ghetto). Dazwischen kommen Personen aus allen Bereichen, Völkern, Staaten, Republiken, Orden, Städten, Landschaften, Ländern, Ereignissen (Pest oder Kriege u.ä.), Beziehungen vor. Das alles ist mehr als gut lesbar und spannend aufbereitet. In den ein- gestreuten kritischen Reflexionen wird Erkanntes festgehalten; am Kapitelende finden sich oft ‚knackig’ formulierte Überleitungen gesetzt. Das alles ist sachlich fundiert und historisch korrekt gearbeitet. Schade, dass es kein Sach-, Orts- oder Personenverzeichnis gibt.
Der Autor ist ein talentierter Erzähler mit einem Sinn für Hinter- und Untergründiges. Sein Wissensreservoir ist beachtlich: Bücher- und Lebenswissen, Hausverstand und Men- schenkenntnis, mystische Ströme und esoterische Ahnungen gehören dazu. Und an jeder Ecke, in jeder Epoche lauert stets gegenwärtige Gewalt – in Gedanken, Worten und Werken der Protagonisten, der weltlichen wie der kirchlichen. Der Krieg – Kulturvernichter und ungebändigter Menschenfresser – schläft nie, sondern gibt sich als „Vater aller Dinge“. Und die Menschen sind (immer noch) nicht entschieden, ihn auszuhungern und endlich zu ächten. Der „homo religiosus“ (mit Ausnahmen) – als Priester, Bischof, Papst oder Mönch, ja selbst Heilige – sind nicht gefeit vor der multiplen Infektion der Gewalt. Dennoch: Man staunt hie und da, wie weit man doch hier und dort gekommen ist.
Die Frage: „Wie soll es weitergehen?“, steht auf der vorletzten Seite (S. 543) des Buches. Jäger setzt noch auf den „homo religiosus“ und meint, die „Überzeugung von der Heiligkeit des Lebens“ sei „die wirkungsvollste Sicherung gegen Gewalt“. Mit dieser Frage ist das Buch in der aktuellen Gegenwart angekommen. Die vorgeschlagene Spur, bei Blaise Pascals Gedanken: „Es ist das Herz, das Gott fühlt, nicht die Vernunft“ die Antwort zu suchen, ist – bei allem Respekt – kritisch zu betrachten. Die Chancen auf tragfähige Brücken zu und zwischen den komplexen Lebensfragen scheinen mir bei Hannah Arendt realistischer: „Noch in den finstersten Zeiten haben wir ein Recht, eine gewisse Erleuchtung zu erwarten. Sie kommt wahrscheinlich weniger von Theorien und Begriffen als von dem ungewissen, flackernden und oft schwachen Licht, das einige Männer und Frauen durch ihr Leben und Werk unter fast allen Umständen entzünden und auf die Zeitspanne werfen, die ihnen auf Erden gegeben ist.“ Ein leises Echo von Pascal ist zu vernehmen, eine Fortsetzung in Arendts Spur wäre schön. «
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Matthias Jäger,
Der letzte Schritt der Vernunft. Von Sokrates bis in 20. Jahrhundert.
Hohenems (Bucher- Verlag) 2017. Gebunden, 552 Seiten. € 22,80.