„Der Abgrund der Geschichte ist groß genug für alle“

Nachdem Paul Valéry vor einhundert Jahren, unter den Erschütterungen des Ersten Weltkrieges, das Prädikat „Sterblichkeit“ auf die hohen Kulturen ausdehnte, indem er versicherte, wir wüßten nun, daß sogar die großen, durch Sprache, Recht und Arbeitsteilung integrierten Kollektivgebilde (nous autres, civilisations) sterblich seien, darf man es als glücklichen Zufall ansehen, wenn der immense Satz noch hier und dort ein Engramm min einem alteuropäisch geprägten Gedächtnis hinterlassen hat. Tatsächlich, „wir Zivilisationen“ sind sterblich, und wir hätten es nach allem, was geschehen war, zur Kenntnis nehmen sollen. Das Prädikat „Sterblichkeit“ kommt nicht mehr nur Sokrates und seinesgleichen zu. Es verläßt die asyllogistische Übung und überschwemmt einen Kontinent, der seinen großen Krieg nicht faßt. Nicht allein die Tatsache, daß binnen vier jähren mehr als neun Millionen Mann an den Fronten ins Feuer geschickt wurden, verlieh der Sterblichkeit die neue Note. Entscheidend ist, daß die Unzahl an Gefallenen und zivilen Opfern aus den internen Spannungen des Kulturgeschehens selbst zu folgen schien. Was sind Kulturnationen, und was bedeuten Zivilisationen, wenn sie solche Exzesse an Opfern und Selbstopfern zulassen, ja nicht nur zulassen, sondern aus ihren eigensten Antrieben hervorrufen? Was verrät dieser Massenkonsum an Leben über den Geist des Industriezeitalters? Was hat diese beispiellos neue Rücksichtslosigkeit gegenüber der einzelnen Existenz zu bedeuten? In dem Wort „Sterblichkeit“, auf Zivilisationen angewendet, klingt künftig die Anspielung auf suizidale Optionen mit. 

Der Schock, von dem Valérys Notiz Zeugnis gab, reichte tiefer, als seinen Zeitgenossen bewußt werden konnte. Für diesmal betraf die Einsicht in die Untergangsfähigkeit der Zivilisationen nicht ferne Welten wie Ninive, Babylon, Karthago. Sie handelte von Größen, die man wie aus der Nähe zu kennen glaubte: Frankreich, England, Rußland … dies waren bis gestern noch klingende Namen. Man sprach sie aus wie Universalien in Völkergestalt. Sie standen für die überzeitliche Stabilität, die man von alters her den Sippen in ihren Vereinigungen in Völkern zusprach. Die Sippen wurden sei the vom Gesetz der Herkunft regiert. Sie verkörperten die Dauer, die durch die Generationen fließt, sosehr auch die Einzelnen im Kommen und Gehen sind. Valery: „Und nun sehen wir, der Abgrund der Geschichte ist groß genug für alle.“²) 

²) „Nous autres, civilisations, nous savons maintenant que nous sommes mortelles … Et nous voyons maintenant que l’abîme de l’histoire est assez grand pour tout le monde.“ Pauls Valéry, La Crise de l’Esprit, Paris 1919, rééd. in: Variété I, Paris 1924; jetzt in: Œuvres I, Paris (Ed. de la Pléiade), S. 988.
Quelle: Peter Sloterdijk, Nach Gott. Berlin (Suhrkamp) 2017. Ss. 7-9.