Im Schatten von Notre-Dame-de-la-Garde entfaltet sich die europäische Metropole. © WLB

Marseille, Hauptstadt europäischer Kultur

„Nur die Stadt ist wirklich. Marseille. Und alle, die dort leben.“ Im Schatten von Notre-Dame-de-la-Garde entfaltet sich eine europäische Kulturmetropole par excellence. Ein farbenprächtiges, unerhört vitales Gebilde, dessen Geschichte und Gegenwart von den Spuren der Zukunft Europas gezeichnet sind. 

Im Herzen von Marseille, um den Alten Hafen herum, wo einen die „Seele“ der Stadt umweht, ist es ziemlich ruhig. „La Grande Clameur“ –  also, das grosse Trara, Geschrei und Getöse – gab es zu Jahresbeginn als die Eröffnung der Kulturhauptsadt 2013 anstand. Eine halbe Million Menschen, Leute aus der Stadt, der Agglomeration und  aus ganz Europa bekamen ein üppiges, farbenprächtiges Spektakel geboten. Das durchkomponierte artistisch-künstlerische Gesamtkunstwerk aus Licht, Klang und Bewegung faszinierte die Marseillais. Ihre Stadt sozu sehen und sie soals Lebensraum  neu zu erkennen, das war für viele berührend. Genau 147,85 Meter über dem Vieux Port leuchtete das Wahrzeichen der Stadt, die Basilika „Notre-Dame-de-la-Garde“ in die Nacht und war integrativer Bestandteil der Show. Spätestens jetzt muss ich an den im Jahr 2000 verstorbenen Journalisten und Romanautor Jean-Claude Izzo denken, der Schlusswort seiner Marseille-Trilogie warnt: „Nur die Stadt ist wirklich. Marseille. Und alle, die dort leben.“

Marseille ist für die Franzosen eine Hassliebe. Da passt es ins Bild, dass der „Underdog“ für sein volksnahes Eröffnungsfest heruntergeputzt wurde: Kultureller Schnee von gestern, hieß es, ärmlich und banal. Ein Schuss Neid, eine Prise Eifersucht sind da wohl auch dabei, denn Marseille definiert sich in diesen Tagen neu. Mit einem Haufen Geld aus Paris, Brüssel und internationalen Invenstoren, arbeitet die Kulturhaupstadt an ihrem neuen Image: Euromediterranée heißt das Zauberwort. Der Auf-, Um- und Neubau der Stadt zu einer europäischen Metropole am Mittelmeer ist voll im Gange. Ideell konzipiert in den 80ern kam es in den 90ern zu Plänen und im anbrechenden 3. Jahrtausend wurden Bauzäume aufgestellt, Strassen aufgerissen, Gebäude mit Plastikplanen verkleidet, Umleitungen, Absperrungen, totaler Dauerstau. Bis 2020 werden etwa 90 Millionen Euro verbaut.

Inzwischen entdecken Einheimische – mit einem gewissen Stolz (!) – und Menschen aus aller Welt – mit Freude, Begeisterung und Interesse – was sich hinter den Bauzäunen getan hat. Sie sehen, was sich Künstler/innen und Architekten/innen ausgedacht haben.

Zum Beispiel: Die verkehrsberuhigte Fussgängerzone um den Alten Hafen – magnifique! Da geht einem das Herz auf, in diesem weiten, zum Meer hin offenen Raum, der durch das Schattendach – L‘Ombrière- aus schwarzem, polierten Inox-Stahlplatten akzentuiert ist. Sie „schwebt“ auf acht schlanken Säulen, faszinierend leicht etwa 10 Meter über dem mit Granitplatten belegten Boden. Diese gelassene Eleganz entspricht dem natürlichen Charme Marseilles, korrespondiert mit dem südfranzösischen Flair.

Oder: Das Korbmacher-Viertel (Panier) mit der Vieille Charité und der Kathedrale „La Major“, seinen renovierten Häusern, Boutiquen, Bistros und Restaurants an den schönen Plätzen. Oder: Die atemberaubend schöne „Kulturachse“ vom Fort St. Jean zum Hafen „La Joliette“ hinunter. Rudy Ricciotti hat das alte Fort aus der Zeit Ludwig XIV. – und mit ihm die Altstadt – über zwei Fussgänger-Brücken mit „seinem“ MuCem (Museum für europäische und mediterrane Zivilisationen) verbunden. Ein Kubus von 72 mal 72 Metern, dessen Fassade in geheimnisvollem Schwarz schimmert und das nahe Meer, die Altstadt, das Fort – und: Stefano Boeris „Villa Méditerranée“ spiegelt. Beide Häuser widmen sich dem zentralen Thema: Geschichte und Gegenwart des Mittelmeerraumes in Europa. Wer immer hier flaniert, versteht intuitiv, was „Euroméditerranée“ meinen soll, hier an der kontinentalen Nahtstelle Europas zum Mittelmeerraum. Marseille, hört man hier, ist nicht eine, sondern DIE  Schnittstelle, wenn es um die Gestaltung einer europäischenIdentität geht, die sich weit klarer als bisher – auch (!) – vom Mittelmeer her, vom Süden her inspirieren und bereichern lässt.

Der massive Input an Kulturgut, der durchaus die breite Masse erreicht, wirkt nach. In Marseille erwacht ein neues Selbstbewusstsein, konzentriert auf die soziale Situation, nein: die soziale Misere, muss man sagen. Die Situation in den nördlichen Quartiers ist bedrohlich. Massive Jugendarbeitslosigkeit, Drogenkriminalität und offene, brutale Gewalt der jugendlichen Drogenkings, bedrohen das Leben der Mehrheit der dort lebenden Büger/innen. Sie fühlen sich von der Politik im Stich gelassen. Z. B.: Es sei keine Priorität, die Verbindungen dieser Stadtviertel ins „Herz“ der Stadt – per ÖPN – zu erleichtern, wird Bürgermeister Gaudin zitiert. Das kam nicht gut an! „Wir haben die Schnauze voll“ stand auf den Transparenten der Demo in Malpassé und „Hört endlich mit der Gewalt auf!“ Die Forderung nach Sicherheit, Arbeits- und Ausbildungsplätzen, besserer Infrastruktur und mehr Mitteln für Bildung und soziale Entwicklung ist klar. Eine Lehrerin beklagte im Radio, dass faktisch nur jedes dritte Kind in Marseille – einer Stadt am Meer – schwimmen könne. Es gibt Siedlungen, die für Tausende Menschen gebaut wurden, wo kein Spiel- und Sportplatz, kein Raum für die soziale Interaktionen besteht.

Das ist ein Elend. Aber erklärbar: In den letzten 70 Jahre, sagen die Forscher, seien in der Stadt Marseille die „tragenden Säulen“ eines funktionierenden Gemeinwesens ein- oder weggebrochen: Es ist ein riesiger Sozialraum ist entstanden, das Verkehrs- und Transportwesen überfordert, die Zusammensetzung und das Wachstum der Bevölkerung ging mit dem Einbruch der ,alten‘ Industrien einher, was das wirtschaftliche Gleichgewicht massiv gestört habe; und die politischen Kräfteverhältnisse haben sich völlig verändert. Angesichts dieser kulturellen Transformationen und ihrer Folgen, habe kaum jemand nicht einmal zu glauben gewagt, dass Marseille überhaupt als „europäische Kulturhauptstadt“ in Frage käme. Es ist anders gekommen.

Wer jemals, oben in der Basilika „Unserer lieben Frau von der guten Wacht“, den Ex-Votos an den Wänden ein wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat, weiss um die Kraft, die das geringste Quentchen Glauben haben kann. Und: „La Bonne Mère“, die gute Mutter liebt alleihre Kinder, ohne Ausnahme. Henry Quinson teilt diese Sicht der Dinge. Er ist katholischer Mönch und lebt seit den 90er Jahren mit seiner kleinen Fraternité St. Paul in einer der riesigen, gesichtslosen Wohnanlagen in der Kulturhauptstadt. Und Jacques Loew (1908-1999) schwitzte aus ähnlichen Motiven in den 1940er Jahren drei Jahre lang als Arbeiterpriester in den Docks von Marseille. Marseille das war und ist – in jeder Hinsicht – eine Beziehungsgeschichte, und oft auch eine Liebesgeschichte. Und was Albert Camus (1913-1960) von Sysiphus sagt, ließe sich ins Stammbuch der Stadt Marseille schreiben: Man muss sich die ‚Marseillais‘ als glückliche Menschen vorstellen.

Wenn Sie den Artikel als pdf herunterladen wollen, dann klicken Sie hier.