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Nur die Liebe siegt

An seinem 85. Geburtstag (12. September) wird er im 55. Jahr seines Lebens als Priester der römisch-katholischen Kirche feiern. Anlässlich seines 80. gab es eine Audienz bei Papst Franziskus. Seit Juli 2015 ist er Offizier der französischen Ehrenlegion. Guy Gilbert – gehört in die Reihe der ‚Großen‘ des Glaubens und der Spiritualität Frankreichs. Sein Name ist eingeschrieben  in die Herzen zahlloser Jugendlicher der Pariser Banlieus – und in der Hand Gottes steht er vermutlich auch – in dicken, fetten Blockbuchstaben. Versuch einer Hommage an einen unerschütterlichen Gläubigen. Von Walter L. Buder

Seit 50 Jahren dient Guy Gilbert als Priester der römisch-katholischen Kirche. Die Pariser Vorstädte sind zu seiner Pfarrei geworden. Sein äußerliches Markenzeichen ist eine schwarze Lederjacke, über und über mit Pins besät. Wenn es feierlich-offiziell abgeht, blitzt – wie ein besonders platziertes Abzeichen – der kleine weiße Streifen des Kollars durch den Lederkragen.  Das inzwischen schüttere Haupthaar fällt nach wie vor in rebellischen Strähnen auf seine Schultern. „Mir ist klar, dass ich alt bin, mein Freund, ganz einfach alt …“
Er kommt aus einer Arbeiterfamilie und hat 14 Geschwister. Was „Familie“ und „Gemeinschaft“ bedeutet, weiß er „par coeur“, wörtlich: vom Herzen her, inwendig, sozusagen. Mit 13 wusste er, dass er Priester sein wollte. Sein Vater: „Das hält nicht 14 Tage!“ Dann hat er aber 15 Jahre studiert. Sein „Scheißtemperament“ und die „Scheißlaunenhaftigkeit“ machten ihm zu schaffen wie sein „Freiheitsdrang und diese Aufsässigkeit“. Es war nicht leicht, das mit seiner Berufung und seiner Gabe zur Auferbauung zu koppeln.  

Im Algerienkrieg der späten 50er-Jahre wurde er fürs Leben geprägt: „Ich hätte ausgemustert werden sollen aber ich habe gebeten, den Platz eines befreundeten Familienvaters einzunehmen.“ Der Krieg, das massenhafte Morden, die Bombenexplosionen, seine Verweigerung zu foltern und die Erfahrung des Straflagers – „Das alles hat mich eintauchen lassen in eine Welt, die mit jener, in der ich lebte, durch einen totalen Bruch getrennt war. Und das hat aus mir einen Kämpfer gemacht.“ In diesen Zeiten des Hassens und Tötens flüsterte ihm der Erzbischof von Algier, Kardinal Leon-Etienne Duval ins Ohr, was ihm zum „Wort des Lebens“ wurde: „Nur die Liebe siegt.“

Guy Gilbert ist der einzige Kirchenmann, dessen Namen den Franzosen sofort einfällt. Unzählige Medienauftritte haben dafür gesorgt. Er ist „gut Freund“ mit vielen Promis. Von Nicolas Sarkozy über die belgische Königsfamilie bis zu den Stars der Straße ist er mit aller Welt gut vernetzt. Auf den 15 Quadratmetern, gleich um die Ecke, wo er „von 4 Uhr früh bis 14 Uhr“ für alle, die ihn brauchen, erreichbar ist, ist davon wenig zu sehen. Oft sind es die „Loubards“ (Jugendliche aus den Banlieus) von damals, denen er mit ein wenig Geld „für Essen oder die Miete“ aus der Patsche hilft.   

Vor 40 Jahren hat er in Faucon, ein kleiner Ort in der oberen Provence, ein Gehöft gekauft und dort für „seine“ Jugendlichen „La Bergerie“ aufgemacht. Ein Ort für Straffällige aus französischen Gefängnissen, die er regelmäßig besucht. Dort können sie an ihrer Zukunft arbeiten und an sich selber. Sie sollen den Schatz heben, finden, was sie verloren oder gar nie gekannt haben: Vertrauen!
 
Wo Père Gilbert hinkommt, machen ihm Menschen jeden Alters und in jeder Situation Geständnisse. Erschütternd, herzzerreißend wird er ins Vertrauen gezogen. Weil er weiß, was er der Liebe seiner Mutter schuldig ist – wenn er von ihr spricht, kommen ihm die Tränen – sagt er den Eltern, „ihre Gören zu lieben und Zeit mit ihnen zu verbringen, denn was hier verloren geht, ist nie mehr einzuholen“. Und zu den Kindern und Jugendlichen sagt er, „sie sollen den Eltern nicht allzu heftig auf die Nerven gehen“, und nichts liebt er so sehr wie jenen Augenblick, in dem „die Mitglieder einer Familie zusammen finden, sich die Hände geben, damit ich ihnen die Flossen segnen kann“.

Dafür hat Père Gilbert geschrieben, Interviews gegeben, Filmportraits gedreht, ist Promis angegangen, hat Geld aufgetrieben, gebetet und Messen gelesen. Aber auch für die 20 bezahlten Mitarbeiter, die La Bergerie betreuen. Jahrelang bereiste er ganz Frankreich und halb Europa. Zu Zehntausenden sind sie gekommen und haben gehört, wie der Mann in der schwarzen Lederjacke ihnen Geschichten vom unerschütterlichen Vertrauen Gottes in seine Geschöpfe erzählte.
 
In den bisher 46 Büchern (einige sind ins Deutsche übersetzt), hat er die Geschichten aus „seinem Volk“ aufgeschrieben. Sie spielen an Orten, die in den Augen der Welt „keine Messe wert sind“ (G. S. Toller), von Menschen, die nach Liebe schreien, Schläge bekommen und in Bitternis erstarren, vom Heulen mit den Wölfen und dem ewigen Kampf um den Glauben an das Gute. In und zwischen den Zeilen ist der „Kamikaze der Hoffnung“ erkennbar, der „Dealer der Liebe“, der bekennt: „Gott, meine erste Liebe“ und mit unermesslichem Vertrauen in kleinen Schritten bis zum letzten Atemzug der Barmherzigkeit Wege freischaufelt, das Feuer der Liebe entzündet.  

Guy Gilbert war und ist eine Art „freies Radikal“ in einer Kirche, für die er eine unverbrüchliche Liebe bekennt. Es ist ihm klar, dass er nie und nimmer Priester einer „normalen“ Pfarrei hätte sein können. Aber er sagt auch, „dass er in die Knie geht vor Priestern, die fünfzehn oder zwanzig Glockentürme haben. Die brauchen wirklich eine ordentliche Portion Mystik für ihre Predigt vor drei alten Damen“. Immer in Kontakt mit der Aktualität – „Ich habe keinen Fernseher aber ich lese täglich zwei Stunden Zeitungen“ – lässt er durchaus pointierte Formulierungen heraus, wenn er sagt, dass sie verheiratete Männer ordinieren sollten oder prophezeit, dass es mit der nächsten Synode zur Familie im Oktober zu einer Revolution komme. Er selber ist da schon ein wenig voraus und gibt die Kommunion den wiederverheiratet Geschiedenen und segnet die Liebe aller Paare – „Heteros und Homos“, setzt er dazu. Und in den Jungen möchte er immer noch „die Gesichter der Engel leuchten sehen, hinter dem ’Scheißleben‘, das sie führen!“. In jedem Fall aber war und ist Guy Gilbert ein Fels in der Brandung des Menschenleides und bekennt tagtäglich einen felsenfesten Glauben an die Barmherzigkeit Gottes und vertraut dem Gefühl, dass nichts – aber wirklich gar nichts – auf dieser Welt verloren geht. Daher, vielleicht, die dicken, fetten Blockbuchstaben für seinen Namen in der Hand Gottes. 

Die Zitate in diesem Text sind in diversen Artikeln und Interviews von Guy Gilbert (überwiegend „LA CROIX“ und „PELERIN“) entnommen. Auch auf die informative Homepage von Guy Gilbert sei hier verwiesen.
© für alle Fotos: www.guygilbert.net

Dieser Beitrag ist im Vorarlberger KirchenBlatt Nr. 40 vom 1. Oktober 2015 publiziert worden.