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„Notre-Dame ist ein Teil von uns allen“

Am 15. April 2019 (!) stand die Kathedrale Notre-Dame in Paris in Flammen. Die Welt schaute zu als  d a s  Symbol Frankreichs zu großen Teilen ein Opfer der Flammen wurde. Anlässlich des 2. Jahrestages der Katastrophe einige persönliche Anmerkungen.

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„Aller Augen waren auf die Kirchenspitze gerichtet. Was sie dort sahen, war etwas Ungeheuerliches. Auf der obersten Galerie, höher als die mittlere Rosette, loderte funkenstiebend eine mächtige Flamme zwischen den Türmen empor.“ – Was sich hier liest wie ein Augenzeugenbericht zum Ereignis von vor zwei Jahren (es war ein Montag, der Alarm ging um 18.18h bei der Feuerwehr ein) ist ein Zitat aus dem weltberühmten Klassiker „Der Glöckner von Notre-Dame“ von Victor Hugo (1802-1885). Der Roman wird 1831 veröffentlicht. Jeder Franzose von Bildung – gleich welcher Weltanschauung (!) – kennt Hugo’s Meisterwerk. Die seherischen Qualitäten von Dichtern einmal dahingestellt, ist seine  Bemerkung am Schluss des Vorworts, dass die Kirche wohl bald von der Erde verschwunden sein wird, nicht uninteressant.
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So schlimm ist es bis dato zwar nicht gekommen. Aber in den Revolutionen wurde sie massiv malträtiert und seit 1905 bestimmt der Laizismus das Verhältnis zwischen dem Staat und Religion, also auch der „ältesten Tochter der Kirche“ (Johannes Paul II.). Aus der frühen (5. Jhdt.) Basilika im Herzen der Stadt, auf der Ile de Cité, hatte sich unter ganz anderen Umständen zwischen 1163 und 1345 die Kathedrale Notre-Dame, wie wir sie heute kennen, entwickelt; und mit der Zeit ist auch ein Prozess der Symbol-Werdung zu erkennen, der – in Kunst, Kultur und Wissenschaft Ausdruck fand und bis heute weitergeht. Victor Hugo’s Liebesgeschichte um die schöne Esmeralda, den buckligen Glöckner Quasimodo und die schillernd-mächtig hintertriebene Figur des Frollo gibt dem Mythos in Gestalt seines Romans eine Form. Wie eine Brücke verbindet sein Werk die Quellen und ihr Wirken bis in die damalige und heutige Gegenwart. Jules Michelet (1798-1874), einer der großen Historiker des Hexagon, schreibt: „Ich wollte ja von Notre-Dame sprechen, aber jemand hat dieses Monument mit seiner Löwentatze markiert, sodass niemand es jemals riskieren wird, daran zu rühren (…) Er hat neben der alten Kathedrale eine aus Poesie erbaut, auf ebenso festem Fundament wie die alte, und so hoch wie deren Türme.“ (1) Der poetische Mythos, ahnt der Historiker, konkurrenziert nicht nur den historischen Gründungsmythos sondern er hat sich anscheinend auch durchgesetzt. Wer jemals in der Schlange auf dem Parvis stand, um ins Inneren der Kathedrale zu kommen, wird verstehen, wovon ich rede. Die unerhörte Attraktivität des gotischen Gotteshauses verdankt sich vielen Faktoren die zudem zusammenwirken müssen, um die 12 oder 13 Millionen Menschen, die sich jährlich anstellen, nach Paris zu bringen. 
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Tatsächlich war es so, dass die ganze Welt und ganz Frankreich, der Faszination der brennenden Kathedrale erlag. Aus dem Schiff der Kirche „Zu Unserer Lieben Frau“ schlugen 90 Meter hohe Flammen; der abendliche Himmel über Paris erglühte, als der von Viollet-le-Duc (1860 dazu gebaute) Turm („flèche“, dt.: Pfeil oder Blitz, die Pariser sprachen vom „Zeigefinger Gottes“) über der Vierung einstürzte, dass die Funken – einer riesigen Insektenwolke gleich – gegen den dunklen Himmel aufstoben. Notre-Dame brennt! Die Bilder auf den Bildschirmen glänzten in den Köpfen und Herzen der Franzosen feuerrot, alles erzitterte und alle zitterten mit; Hände lagen gefaltet auf den Lippen, ein Schmerz, wie ein verstummtes, leibhaftig-universales „Touché“ legte sich über die Szenerie, über Paris, Frankreich und weite Teile der Welt. Ein Schrecken würgte die Herzen: Note-Dame brennt!
Das wunderbare Gotteshaus – Vorbild für die Dome der Ile-de-France – war schwerstens getroffen: Zwei Drittel des Kirchenschiffes, die Turmspitze über der Vierung zerstört, zahlreiche Kunstwerke, Glasfenster, liturgisches Mobiliar und Gegenstände und „Les ‚Mays‘“ – die großen Tafelbilder – alles (2) schwerstens beschädigt.
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In der ersten Ansprache zur brennenden Kathedrale, sprach Präsident Emmanuel Macron von Notre-Dame als „cette part de nous“ – als „dieser Teil von uns“. Damit zielte und traf er das Herz der ‚Marianne’ (die personifizierte Republik) und wohl auch ihre zutiefst laizistische Seele und dort drinnen das Herz all jener, die – wie und warum auch immer – Notre-Dame als „die ihre“ erfühlten. Mögen Eiffelturm, Triumphbogen und sogar das schneeweiße Sacre-Coeur auf dem Montmartre – im Ranking der verkauften Briefbeschwerer-Souvenirs klar vor der nationalen Herzens-(Notre)-Dame liegen – einen Platz im oder wenigstens nahe am Herzen oder gar der Seele der Franzosen, bis dahin hat es keine einzige dieser Sehenswürdigkeiten; nicht einmal Chartres – die wunderschöne unter den zahlreichen schönen Notre-Dame’s – hat das geschafft. Sie alle sind und bleiben Wahrzeichen, doch Notre-Dame de Paris ist mehr als ein Wahrzeichen.

Eine Spur zur Antwort auf die Frage nach dem Warum und Wieso dieses geheimnisvollen MEHR, haben Jules Michelet und Victor Hugo – ein jeder auf seine Weise – gelegt. Die Spannung zwischen (historischer) Realität und (poetischer) Wirklichkeit, die sich beide EINE Wurzel teilen, halten den Zugang zu beiden Welten offen, sorgen für geistige Bewegung und weiten alle Verständnis-Konzepte. „Notre-Dame“ weil die _poetische_ Kathedrale – Schönheit, Anziehungskraft, Bedeutungswelten und Emotionen etc. – den französischen Seelen in besonderer Weise, in Wahrheit allerdings auch der ‚universalen Menschheitsseele‘ (wenn es erlaubt ist, so zu reden!) irgendwie) eingeschrieben ist. So vielleicht, wie es in Novalis‘ (1772 – 1801) frühromantischem – Gedicht heißt: „Ich sehe Dich in tausend Bildern…“ eine Hymne an eine poetisch entgrenzt-universale „Unser-Aller-Liebe-Frau“ … 
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Jährlich wälzten sich 12-13 Millionen Besucher/innen durch das lichterfüllte Kirchenschiff der Kathedrale, unter dem jetzt in Arbeit befindlichen, gesicherten „Wald“, sprich: dem zur Gänze zerstörten Dachstuhl aus mittelalterlichen Eichenbalken, dessen Wiederaufbau (a l’identique, dt. Identisch, original, wie vorher) unter Einsatz aller verfügbaren holztechnischen Kompetenz und Ressourcen in den letzten Wochen begonnen hat. Hier,  zwischen den himmelstrebenden Säulen hatten die Revolutionäre von 1789 hier ihren „Tempel der Vernunft“ und Napoleon nutzte die mächtige Symbolik des Ortes, und krönte sich zum Kaiser. Geistesriesen wie Blaise Pascal (am 23. 11. 1654) oder Paul Claudel (am 25. 12.1886) erlebten hier erschütternde Gottes-Einsichten; feurige Predigten und erhebend-devote Marienhymnen durchstimmen diesen Raum voller Geist und beseelt von Kunst und ergreifender Schönheit – und, wie es sich gehört in der Zeit und der Welt, den Hässlichkeiten, wie sie sich in den Winkeln jeden Gotteshauses dieser Welt finden lassen. Aber: Es gibt – von der Kathedrale in Reims abgesehen, die Frankreichs Leiden unter dem Angriff der (deutschen) Feinde im Ersten Weltkrieg verkörperte – „kein anderes, religiöses Bauwerk, das die Geschichte und das Kulturerbe unseres Landes so verkörpern kann, wie Notre-Dame in Paris. Weit über das gotische Meisterwerk hinaus, „verkörpert Notre-Dame das Wesen Frankreichs und ist – auch und gerade in seinen Widersprüchen „eine unversiegbare Quelle der Inspiration“, schreibt Guy Boyer, Chefredakteur der Kunstzeitschrift „Conaissance des Arts“.

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Wie steht es denn jetzt um die Kathedrale. Die Phase der Sicherung der Baustelle, dass überhaupt mit den Arbeiten aller Art begonnen werden kann, hat bis dato 165 Millionen Euro verschlungen und wird im kommenden Sommer beendet sein. Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Installation der Holzkonstruktion –  die die Bögen des Schiffes stützen, weitergeführt.  fortgesetzt. Eine Art „Schirm“ wird auf der Höhe der Vierung (Transsept) errichtet, mit dem Zweck, das Eindringen von Wasser von aussen in die Kathedrale zu verhindern. Die Bauleitung prüft die Studien zur Diagnose der Situation und wird demnächst das Arbeitsprogramm finalisieren, den genauen Zeitplan und das Budget für die Restaurierung. Man denkt, den präsidialen Zeitvorgaben partiell entsprechend, 2024 eine „Eröffnung“ des Gotteshauses – aber dann sollen die Arbeiten zur Wiederherstellung aufgenommen werden. Wie La Croix weiter berichtet, startet die Pariser Stadtverwaltung in den kommenden Monaten eine Volksbefragung zum Ausbau der „‚île de la Cité“. Im Rahmen eines Architekturwettbewerbs, wird eine Jury diesen Sommer vier Teams auswählen. Eine erste Runde des Dialogs findet im Dezember statt, eine zweite im April 2022, bevor das Siegerprojekt im Sommer 2022 ausgewählt wird.

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Es gäbe da noch viel zu erzählen. Übers Geld wäre zu reden – in ein paar Tagen kam eine runde Milliarde Euro zusammen. Über die Könige, Krönungen, Musik, die Kunstwerke, die Spiritualität(en), die Ausdrucksweisen des Unglaubens und Glaubens, die Liebe zu Gott und dem Nächsten, über die Handwerkskunst, das wissenschaftlich-technische Vermögen, die sichtbaren und unsichtbaren Zeugnisse der Bestärkung und der Zuneigung, des Mutes und der Hingabe, stille Freuden, großartige Gesten und elendes Versagen. Man ist optimistisch in Paris, wenigstens die Eröffnung der Kathedrale ist für 2024 ins Auge gefasst – von „Fertigstellung“ spricht keiner mehr! „Eine Welt, die nur halb verschwunden war und dem Herzen (Frankreichs) noch weit entfernt lag …“, sagt der Schriftsteller François Sureau in einem Text, der „La Croix“am Tag nach dem Drama erreichte, „… ist dieses Herz, das Tag für Tag wiedergeboren wird, und es wird Aufgabe der Katholiken sein, es ihren Zeitgenossen großzügig zu öffnen“. Mit ein wenig „Zukunftsmusik“ im Sinn, geht es sich leichter in gewiss gar nicht leichte, kommende Zeiten, in denen ungeahnte Herausforderungen für Geist, Sinn und Verstand warten. Ergo: Es bleibt spannend in Paris! _

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