Betrachtungen am Ende einer Rad-Pilger-Fahrt für den Frieden
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Das war die Frage, die ich mitgenommen, nein: mitbekommen habe. Was bedeutet das alles? Wie die wirklich guten Fragen, ist mir auch diese zugefallen, zugeworfen worden und ich konnte sie auffangen. Es war ein Zucken, wie wenn ein Fisch anbeisst. Der Rest war Routine, also relativ einfach aber – meine Güte (!) – beileibe nicht ohne Anstrengung, Mühsal, Kampf sogar hie und da. Aber: Alles zusammen, die Unabwägbarkeiten, die Gewissheiten, die Gewohnheiten, die vertrauten Einsichten und verweigerten Erkenntnisse – all das – das „Eingemachte“ eben – trägt dich, trotz allem oder deswegen. Und – post festum – kannst du annehmen und zugeben, was du im Moment des Ankommens am Ziel als gewisse Ahnung geschenkt bekommen hast, nämlich: Wohin es dich wirklich getragen hat – ins Staunen…
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Das war natürlich nicht das Ziel. Das hat einen anderen Namen. Es heißt Fatima, Santiago oder Medjugorje, Lourdes oder Rom, die Madonna oder Padre Pio, eine Heilige, ein Heiliger oder ein Papst, eine verlorene Kapelle am Meer oder eine Kathedrale mitten in einer Stadt – oder eben, wie in meinem Fall: Jerusalem. – Der Weg dorthin führte über sechs Wochen durch sieben Länder und nach rund 3.800 Kilometer und 23.000 Höhenmeter sind die 18 Friedensradfahrer/innen (3 Frauen, 14 Männer, ein Sanitäter im Begleitfahrzeug). Keiner hat aufgegeben, alle sind gut angekommen. Eine einzige Sturzverletzung mußte im Krankenhaus von Novi Sad versorgt werden. Am Ostermontag in Wien gestartet und am Sonntag vor Pfingsten wieder zurück zu Hause, konnte sich ein phänomenal tüchtiger Schutzengel auf fröhliche Pfingsten freuen. Danke, von Herzen, dem wachsamen, sichtbaren Sanitäter und dem/den unsichtbaren aber spürbar auch präsenten Schutzengel(n), womit die Perspektive des Staunes wiederhergestellt wäre.
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Jerusalem also. Aber: Der Name des Ziels ist – in Nachhinein – nicht wirklich wichtig. Das Ziel ist wichtig. Ob übers Land oder übers Meer, per pedes, Fahrrad oder Pferd – spielt in Wirklichkeit (eigentlich) keine Rolle. Unterschiede – die sind bedeutsam. Nein: Mehr als bedeutsam. Wie bedeutsam – kann oder muss (?) – jede/r für sich erärgern, erplanen, erleben, ersinnen, erleben, ersingen, erfreuen, erzürnen, erpilgern – oder eben: erfahren. Nun, genau darum geht es, um nicht zu schreiben: Nur darum geht es – sich zum Staunen tragen lassen.
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Allemal: Grenzen entscheiden. So oder so, wie und wo, wann und warum immer sie gesetzt, gezogen, gebaut sind: Im Augenblicklich des Überschreitens erkennst du sie in ihrem Wesen und – dich selber auch. Eindringling und Flüchtiger zugleich erschrickst du, noch während du für dein Visum zahlst, über die erwachte, keimende, glasklare Einsicht: Weder Diesseits noch Jenseits – im Niemandsland ist deine Heimat. Du bist ein „Peregrinus“ – das ist das lateinische Wurzelwort für „Pilger“- das bist du zuerst, zuinnerst und zuletzt. Ein Fremdling, weil erstens: Unterwegs und zweitens: Im Jenseits von allem, was „ich“ bin und (zu) „mir“ gehört, auf Gebieten (per agrum) – die immer schon (zu) jemand anderem gehören. Ob du von Bregenz weggehst, in Wien startest oder in Syrien ein- und in Jordanien ausreist, ist nicht wichtig. Wenn du Glück hast, darfst du dich als Gast fühlen, ein Zustand also vorübergehender Stabilität, eine Art Zuhause im Offenen, geschützt und doch frei, eine Weise lebensfreundlicher Ungewissheit im Horizont namenloser Dankbarkeit.
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Pilgerwelten. Es ist besser, von ‚Welten‘ zu reden. Die Welt des/r Peregrinus*/der Peregrina* ist eine mitgehende Innenwelt. Bewegung ist hier das Maß von Allem. Unterwegssein das Täglichbrot für Leib und Seele. Der Weg ist wie Nahrung. Vorankommen, Bleiben, Rasten und vor allem das wiederkehrende Ankommen und Aufbrechen, das ist der wahre Stoff, ‘materia prima’, das Wesentliche im Pilgern. Jede Ankunft ist eine Zustimmung, jeder Aufbruch eine neuerliche Einwilligung. Unabhängig von Wind und Wetter, vom Zustand der Strasse, der Strecke bis zum nächsten Teilziel, der Stimmung der Gefährten/innen, dem Zustand des Materials, des Sitzfleisches und der Muskulatur oder der Ernährungssituation, physisch oder mental, psychisch und spirituell gesehen. Ergebung, wird zum Hauptwort erst mit der Zeit auch eine Haltung. Sie sagt meist: Gut so – der Ansatz anfänglicher Dankbarkeit!
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Zugegeben: Ohne meine Gefährten/innen hätte ich an manchen Tagen wohl nicht zur Zustimmung gefunden und meine Einwilligung erneuert. Und das ist bei weitem nicht ihr einziges Verdienst. Oh Gott, welch ein Haufen! Ein Sack voll Sehnsucht und Illusion, ein Gebirge an gutem Willen, Entgegenkommen und Unvermögen, an Ideen, Kompetenz und Orginalität. Kurz: Jede Menge Stoff für aufrechte, zähe und kämpferische Menschlichkeit, verzagt-unverzagt, traurig-froh, unaussprechlich- vielsagend und so unverständlich-verständnisvoll in Ärger und Zorn, in Zuneigung und Aufmerkamkeit, in flammendem Zorn und brennender Versöhnlichkeit – wer hier „Grausbirnen“ aufsteigen sieht (da ist was dran!), möge genau hinschauen, es könnten Paradiesäpfel sein.
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Und dann, fast schon zum Schluss, die große, die schwere Frage: Und, was hat das mit Gott zu tun? Sag, bist du Gott begegnet? – Und ich verstumme, frage nach und suche einen Einstieg! Als ob ich ein Bergsteiger wäre (Behüte Gott!) und vor einer Steilwand stünde und wüßte, dass sich hier und jetzt alles entscheidet, das Risiko tief zu stürzen inbegriffen. Gott sei Dank, gibt es die Bilder aus den Archiven des Körpers und Geistes: Die sanfte Morgensonne auf der Haut auf der Fahrt durch einen kleines Tal von unerhörter Schönheit in der südöstlichen Türkei; den frischen Wind auf den Höhen um Bilecik; den Schweiß auf den Steigungen im serbischen Donautal; das Brennen in den Oberschenkeln auf den letzten der 160 Kilometer nach Damaskus hinein; die freundliche Professionalität des diensthabenden Arztes im Krankenhaus von Novi Sad, der ein paar Steine aus der kleinen Fleischwunde in meinem Ellenbogen holte; die Einfahrt auf der 4-spurigen Autobahn nach Istanblul hin, der Albtraum jedes Schutzengels im Fahrradbereich; den Ruf des Muezzins – „Allah hu’akbar“ – bewegend schön und hässlich krächzend, manchmal beides kurz nacheinander; die Stunden am Checkpoint Jenin als wir – Überbrückungshilfe – unsere Lebensgeschichten austauschten; die Spuren des Gottes Abrahams, Isaaks, Jakobs und Ismaels an vielen, vielen Orten und in vielen Menschen; die unglaubliche technische Qualität unserer „Tretmaschinen“ (Hl. Shimano!!!) und der Lobpreis des Fahrrades; die kleinen Einblicke und großen Offenbarungen der Reisegefährt/innen; die frohen, tiefen Begegnungen mit Christen/innen, die den Auferstandenen unter den Muslimen ahnen, finden und am Werk glauben. Bewegende Zeugnisse eines erlösten Daseins und der brennenden, schmerzhaften Sehnsucht danach – in Jerusalem und in Bethlehem, in Israel und Palästina, von Juden und Palästinensern und von Christen. Aber sind das Antworten auf die große Frage? Wohl eher nicht, doch – wie der alte Rabbi zu sagen pflegte – „Vielleicht, vielleicht …“
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Noch vieles andere, freudeleuchtend und traurig lastend ist geborgen aber ungesagt, gelebt zwar aber stumm und nicht ins Bild zu bringen. Dennoch: In Bildern, Stimmen, Klängen und Düften, von Menschen, Landschaften, Ereignissen und Gedanken, sind entschlüßelbare Szenen abrufbereit und Geschichten, die – Gott gebe es – ich nie und nimmer vergessen möchte, weil sie – vielleicht – das tragende, begleitende Geheimnis aller Wege, aller Anfänge, allen Lebens (mit und ohne Fahrrad) beschlossen halten. Bis dann eines Tages, wenn die Stunde da ist und die Zeit reif für das rechte Wort, den guten Ton, die passende Farbe und den angemessenen Klang, dann werden sie aufgehen, wie die Sonne über dem Ölberg und – wie der Auferstande im Leben der Menschen aller Welt – und ihre Antwort ahnend, wissend, fragend freigeben und entbergen: Bist Du es, Rabbuni ? Bis dahin, bleibt mir das Staunen, was diese Friedensradfahrt für eine Erfahrung bedeutet – und die Dankbarkeit für eine stete, fast zeichenhafte Nähe. Das ist doch schon etwas – oder ?