Kardinal Sako: „Religion kann nicht Grundlage eines modernen Staates sein“
Der Patriarch der chaldäisch-katholischen Kirche, Kardinal Louis Raphael I. Sako, traf sich am 12. August 2020 mit dem irakischen Premierminister Moustafa Al-Kadhimi zu einem Gespräch. Nach zahllosen Konflikten, religiöser und ethnischer Diskriminierung und dem verhängnisvollen Terror des IS haben besonders die Christen, aber auch andere religiöse Minderheiten schwer gelitten. Nach wie vor ist die Situation im Irak von politischer Unsicherheit geprägt. Noch ist das Vertrauen in den neu zu ordnenden Staat nicht gefestigt, die Traumata aus der Vergangenheit heilen nur langsam.
Louis Raphael I. Sako, der Kardinal von Bagdad, ist seit Jahrzehnten die Stimme der Christen und religiösen Minderheiten im Irak. Sein Engagement für Frieden und Versöhnung ist im Land selber und weit darüber hinaus akzeptiert. In seinem 45-minütigen Gespräch mit dem irakischer Premier Mustafa al-Kadhimi unterstützt der Patriarch dessen Vision von einem säkularen Staat und die Trennung von Religion und Politik.
Gleichzeitig ermutigt er die Christen im Land, sich „als Iraker/innen“ beim Aufbau der Gesellschaft einzubringen. Und das, obwohl weite Teile der muslimischen Bevölkerung noch nicht bereit sind, Christen überhaupt als Iraker/innen gelten zu lassen. Mit Hilfe von teils staatlicher, vor allem aber kirchlicher Unterstützung, sind fast die Hälfte der zu hunderttausenden Vertriebenen wieder zurückgekehrt. Es sollten aber noch Viele mehr kommen, nicht nur aus ökonomischen Gründen, denn das Christentum, so der Kardinal, sei im Irak tief verwurzelt und kulturell von hoher Bedeutung. (WLB)
La Croix: Wie leben Christen heutzutage im Irak, wo immer noch Unsicherheit herrscht ?
Kardinal Sako:_ Christen fühlen sich im Irak nicht sicher. DAECH hat Kirchen und christliche Symbole zerstört, Christen wurden verjagt und beraubt … Die Wunden sind sehr tief. Obwohl aktiven Daesh-Mitglieder vertrieben oder tot sind, gibt es nach wie vor vielfältige Unterstützung. Das Gesicht hat sich verändert, aber die Ideologie ist geblieben.
Christen sind seit langem wegen ihrer Religion diskriminiert, die der Koran als „gefälschte“ Religion betrachtet. Infolgedessen werden wir an den Rand gedrängt. Die Aufklärung und Bildung der Bevölkerung erfordert große Anstrengungen der Regierung. Die Behörden sollten nicht nur positiv über Christen sprechen, sondern auch über Juden und andere Gläubige. Die Iraker müssen lernen, die Anderen wahrzunehmen und zu respektieren, so wie sie sind.
Sie haben Anfang August Premierminister Mustafa al-Kadhimi getroffen, welche Fragen haben Sie mit ihm erörtert?
Kardinal Sako: ich habe die Probleme des Irak angesprochen, in erster Linie als Iraker, der ich bin. Es gibt keine Rechtsstaatlichkeit hier. Wir haben daher über den Staat, die Gesetze, die Verfassung, aber auch die Verbreitung von Waffen, über Korruption im Land und die Wahlen gesprochen. Die Regierung muss die nationale oder die Polizei vor Ort zur Kontrolle in diesen Gebieten einsetzen. Dann können Christen vielleicht auf eine bessere Zukunft hoffen. Wir haben auch die Situation im Libanon erörtert, wo viele irakische Christen – aber auch Muslime – in sehr prekären Umständen leben.
Welche Veränderungen könnten die Rückkehr eines Großteils der Christen aus der Diaspora in den Irak befördern?
Kardinal Sako .: Hoffentlich wird der Irak zu einem säkularen Staat. Der Premierminister will genau das! Er hat eine echte Vision und ist bereit, sich mit Geduld zu wappnen, um dieses Ziel zu erreichen. Ich bestärkte den Regierungschef, dass eine Religion nicht die Grundlage für einen modernen Staat sein kann. Ich bin der Überzeugung, dass Politik und Religion getrennt werden müssen. Wenn der Irak auf der Grundlage der Achtung der demokratischen Freiheiten ausreichend stabil ist, können wir erwarten, dass finanziell erfolgreiche irakische Christen, insbesondere aus den Vereinigten Staaten, zurückkehren, und in irakische Unternehmen investieren.
Wie gehen Christen in diesem Land mit den vielfältig erlebten Traumata um?
Kardinal Sako: Trotz allem, was wir wegen unseres Glaubens erlitten haben, sind wir treu geblieben. Wir können uns auf eine starke Kirche stützen, die – im Gegensatz zur schwachen und schlecht organisierten Zivilgesellschaft – viele Initiativen setzt. Die Zukunft ist vielversprechend, besonders in der Ninive-Ebene. Der Premierminister war bei seinem letzten Besuch dort überrascht, den guten Zustand der wiederaufgebauten Dörfer zu sehen. Ich habe deutlich gemacht, dass wir den Wiederaufbau wegen der Kirche, nicht wegen des Staates, bewerkstelligen konnten. Auch in Bagdad werden wir dank unserer Präsenz im sozialen Leben und unserer guten Beziehungen zu muslimischen Behörden und politischen Führern respektiert.
Was können die verschiedenen christlichen Gemeinschaften im Irak für ihr Land tun?
Kardinal Saco: Die Christen müssen vor allem als irakische Staatsbürger zum Land beitragen. Es gilt für sie, in der Situation nicht gleichgültig zu bleiben oder darauf zu warten, alles zu erhalten. Sie fordern viel von der Kirche, aber ein Großteil von ihnen ergreift zu wenig Initiative – so kann es nicht funktionieren. Die Christen müssen die zur Verfügung stehenden Mittel als Bürger nutzen, sie sind in Regierungspositionen und können Maßnahmen setzen. Die Behörden ihrerseits sollten sicherstellen, dass das Gesetz fair angewendet wird.
Was erwarten Sie von den Christen im Westen ?
Kardinal Saco: Dass sie mitten unter uns präsent, dass sie mit uns sind. Das gibt uns Mut und Hoffnung. Wir brauchen qualifizierte Fachkräfte, um die Wirtschaft zu entwickeln. Der Westen sollte die Christen im Osten in keiner Weise im Stich lassen. Wir sind die Wurzeln des Christentums – wenn es seine Wurzeln vergisst, sind die Christen wie ein gefällter Baum.
Quellenangabe: Das Interview führte Jean-Baptiste Ghins für La Croix. Leicht redigierte Übersetzung aus dem Französischen von Walter L. Buder, publiziert mit freundlicher Erlaubnis der Chefredaktion von La Croix.
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Zur Person: _Louis Raphael I. Kardinal Sako_ geb. 4. Juli 1948 in Zaxo, Irak; Studien in Rom und Paris (promoviert in Pastristik, Religionsgeschichte, Lizenziat in Islamwissenschaft); spricht neben Arabisch 12 Sprachen (darunter auch Deutsch); Priesterweihe 1974; Regens des chaldäischen Priesterseminars in Bagdad; 2003 Erzbischof von Kirkuk; seit 2103 Patriarch der Chaldäisch-katholischen Kirche (2013, ) und seit 2018 von Papst Franziskus ins Kardinalskollegium berufen. Für seine jahrelange Friedens- und Versöhnungsarbeit in Kirkuk, wurde ihm 2010 der Friedenspreis von Pax-Christi-International verliehen.
Irak aktuell: Einwohner: 38,6 Millionen Einwohner / Fläche: 434.128 km² / Hauptstadt: Bagdad / föderale Republik mit parlamentarischem System / Staatspräsident: Badham Saleh / Ministerpräsident: Mustafa Al-Kadhimi.
Römisch-katholische Kirche im Irak: Man zählt heute ca. 300.000 Christen (vor 2003 zählte man ca. 800.000 Christen). Die Römisch-Katholische Kirche im Irak besteht aus Kirchen sowohl des Lateinischen als auch anderer Riten. Drei Viertel der irakischen Christen stellt die Chaldäisch-katholische Kirche. Sie verwendet eine dem Aramäischen, das zur Zeit Jesu Christi in Palästina gesprochen wurde, ähnliche Liturgiesprache. Es existieren auch syrisch-katholische, armenisch-katholische, griechisch-katholische und lateinische Gemeinschaften. Aktuell gibt es in Bagdad ca. sechzig Kirchen, von denen etwa die Hälfte katholisch ist. Die Klöster haben eigene, in dieser Zahl nicht berücksichtigte, Kirchen.