„Spuren nach Emmaus“ suchen, finden, legen und lesen Marlene Giesingers Gedichte. Sie geben poetisches Geleit ‚ auf Weg zu Orten und Quellen des Lebens. Eine Lesebericht von Walter L. Buder.
Das Buch ist im heurigen Frühjahr im Würzburger Echter-Verlag erschienen. Das ist eine gute Adresse für religiöse, geistliche, spirituelle Gedichte – und das seit Langem schon. Lyrik generell sei „im Literaturbetrieb stiefmütterlich behandelt – zu seinem eigenen Schaden“ (F. Ph. Ingold) – was auch für den Religions- und Kirchenbetrieb gilt. Zwar gibt es in derdeutschsprachigen Nische einige Vielgelesene – wie etwa Andreas Knapp oder Andrea Schwarz. Angesichts des Zustandes der institutionsgebunden (christlichen) Religiosität, ist das von Interesse. Während ehedem gesellschaftlich dominante und lebensgestaltende Rituale zu „christentümlichen“ Ar- tefakten von weitgehend musealer Bedeutung verkümmern und die althergebrachten Glaubensgestalten keine Kraft mehr haben, um individuelle Lebens- und Glaubenserfahrungen sinnbringend zu verarbeiten – Zeichen der Zeit (?) – arbeiten Dichter/innen an sprachlichen Geländern zum Gehen „im trostlichten ja“ (S.38)
Diese Gedichte sind – auch wenn sie ohne Zweifel religiös-biblisch-spirituell angehaucht (inspiriert!) sind – keine wehmütigen Abgesänge oder sehnsüchtige Elegien. Im Gegenteil: Es geht ans „Eingemachte“, also die personalen Lebens- und Glaubenserfahrungen, die „letztlich untrennbar verbunden“ (S. 5) sind. Dort ist das poetische Vermögen (Potential) gebunkert – der wahre Schatz, aus dem Marlene Giesingers religiöse Lyrik schöpft.
Ungereimt und durchgehend in Kleinschreibung gehalten fragt sich: Ist das Ausdruck spiritueller Vorsicht, geistlicher Bescheidenheit oder po- etisch-methodische Funktionalität und/oder dem Thema Emmaus – Weg und/oder Ziel? – geschuldet? Mit Von-allem-etwas liegt man nicht falsch, doch vor alledem geht es um die Sprache selber. Mit M. L. Kaschnitz (1901-1974) gesagt: „Die Sprache, die einmal ausschwang, Dich zu loben / Zieht sich zusammen, singt nicht mehr / In unserem Essigmund …“. Es ist also Spracharbeit an den Erfahrungsgrenzen, die in Unter- und Obertönen an einen Rap erinnern. Aber das bloße Weitersagen ist sowieso nicht Sache zeitgenössischer Lyrik und schon gar nicht religiöser, geistlicher oder spiritueller Poesie.
Wie dem auch sei – zu hoffen bleibt, dass die Gedichte von Marlene Giesinger viele erreichen, besonders jene, die noch Energie aufbringen, ihren Gefühlen, Erinnerungen und Gedanken, ihrer Sehnsucht und sich selbst zu trauen. Von hier aus ist Spuren-Suche angesagt. Die Spuren weisen in Richtung „todsicheres leben“ (S. 89). Und es „alltagt“ (S. 49) in den uralten Wortspuren, Narrativen, Szenen wie Emmaus; aus den Hinter- und Überwelten ferner, fremd gewordener Sprachen, Gedanken und Ritualen werden sie realisiert, über-setzt in ein je persönliches Hier und Heute – wo sie wie warme Quellen (deutsch für das hebräische ‚emmaus‘) aufbrechen und neuerlich gefasst werden können.
Religiöse Lyrik? Eher mit Vorsicht zu genießen, flüstert der Zeitgeist und hat nicht ganz Unrecht. Doch Aufmerksamkeit und Zuneigung sind aus Erfahrung nicht weniger dienlich wie Zweifel und kritische Distanz. Eine ordentliche Portion Wartekraft, auch Geduld genannt, mit zu bringen, und ein Polster an literarischer Neugier, intellektueller Offenheit für religiös-christliche Traditionsfindlinge – ist kein Nachteil bei der Annäherung an Gedichte generell – und mit den hier besprochenen im besonderen. Vermutlich kommt der Appetit mit dem Essen – wie es die Alltagsweisheit verspricht.
_
Spuren nach Emmaus. Gedichte, die das Leben schrieb.
Würzburg (Echter Verlag) 2018.
ISBN 978-33429-04466-4
_