Spirituelles Morgen-Briefing _ (c) WLB

Strampeln für Versöhnung und Frieden

Am 2. September 2011, ein Freitag, überspannte ein tiefblauer Himmel die Wiener Innenstadt. Der Turm des Wiener Stephansdomes leuchtete in der Morgensonne. Auf dem „Helmut-Zilk-Platz“ bei der Albertina, hinter der Staatsoper, macht sich eine Gruppe von Radfahrern startklar. Die Leute tragen ein weißes T-Shirt mit dem blauen Logo einer stilisierten Friedenstaube im Flug; auf dem Rücken, zwischen den Flügeln, trägt sie eine/n Radfahrer/in. Darunter steht: „friedensradfahrt.eu, Bosna i Hercegovina 2011“. 

Die Friedensradfahrt nach/in Bosnien-Herzegowina“ (BiH) war das Unternehmen, organisiert von Seiten des österreichischen Zweiges des Internationalen Versöhnungbundes (IFOR), überschrieben. Seit seiner Gründung am Vorabend des Ersten Weltkriegs, setzt er sich gegen Krieg und jede Form von Gewalt wie auch für einen gewaltfreien Umgang mit Konflikten auf allen Ebenen ein. Der österreichische Zweig des Versöhnungsbundes wurde 1921 gegründet, war in der Nazizeit verboten und wurde 1953 wieder aktiv. Schulungen zur aktiven Gewaltfreiheit und gewaltfreie Initiativen in Kolumbien, Israel und Palästina sowie im Westbalkan sind in seinem Programm. Seit dem Beginn der Kriege im damaligen Jugoslawien – also 1991 – war er Versöhnungsbund unter anderem an der Entsendung von ca. 120 österreichischen Friedens-dienern/innen in die Region beteiligt und arbeitet mit den Zentren für gewaltfreie Aktion (Center of Nonviolent Action) in Belgrad und Sarajevo zusammen.
 
Die Teilnehmer/innen an der Friedensradfahrt von Wien nach und in Bosnien 2011.

Die 16 Teilnehmer/innen der Friedensradtour, zwischen 20 und 70 Jahre alt, kamen aus Österreich und Deutschland. Einige von ihnen kannte ich schon. Ihre persönlichen Motive und Absichten waren sehr unterschiedlich. Aber jede/r von ihnen hatte sich an der Erarbeitung eines „Code of Conduct“ beteiligt und sich per Unterschrift verpflichtet, „den Grundsätzen der aktiven Gewaltfreiheit in Geist, Wort und Tat zu folgen (…), allen Beteiligten „vertrauensvoll und mit Achtung und Respekt“ zu begegnen und „in einem Konflikt nicht Partei (zu) ergreifen, sondern für Frieden, Menschenrechte und Versöhnung ein(zu)treten“.

Als (langjähriges) Mitglied von Pax Christi kenne ich die Arbeit des IFOR und seines österreichischen Zweiges vor allem durch Jean und Hildegard Goss-Mayr‘s Einsatz für Gewaltfreiheit. Ich bin seit zwei Jahrzehnten passionierter Radfahrer und schon weit länger engagierte ich mich für Frieden und soziale Gerechtigkeit. Der Balkankrieg ist in meine Nachbarschaft gekommen. Ich wohne Tür an Tür mit zwei Familien (muslimisch die eine, orthodox die andere), die vor dem Krieg in ihrer Heimat nach Österreich geflüchtet sind. Etwa 60.000 Bosnier/innen sind heute Bürger Österreichs. Von 1992 an gab es in Österreich die sehr erfolgreiche Aktion: „Nachbar in Not“. Zehn Jahre lang wurden Tausende Tonnen von Material nach BiH gebracht. Die Österreicher/innen zeigten sich unerhört großherzig und wurden „Spendenweltmeister“. Parallel dazu verzeichnete man ab 1993 eine markante Zunahme der Fremdenfeindlichkeit; ein von der rechtsgerichteten FPÖ initiiertes „Anti-Ausländer-Volksbegehren“ erreichte 416.735 Unterschriften (7,35% der Wahlberechtigten.
 
Meinen Begriff von Nachbarschaft hatte ich damals ausgeweitet. Dementsprechend war ich entschlossen, mir die Zeit zu nehmen, für diese besondere Nachbarschaftspflege. Man ist ja auch Bürger Europas. Als Theologe interessieren mich die religiösen Dimensionen einer Gesellschaft und als getaufter Christ und Angehöriger der katholischen Kirche, bin ich auch ein Stück in der Rolle ihres Vertreters. Und dann stand da der Name: „Srebrenica“ – einer dieser schrecklichen, grossen Namen mit der ihnen eigenen traurigen Berühmtheit und tragisch eng verknüpft mit der Nachkriegsgeschichte Europas. Der Völkermord an den bosniakischen Muslimen geschah nicht nur unter den Augen bewaffneter europäischer (und/oder) niederländischer Blauhelme sondern praktisch vor unserer – Europas Haustür – sind es doch gerade mal 500 Kilometer von Wien bis zur bosnischen Grenze. Wahnsinn! – Krieg, denke ich mir, ist seit Menschengedenken eine der normalsten Erscheinungsformen des Wahnsinns. Und Radfahren, das habe ich letzthin gelesen, sei „aktive Non-Kooperation mit dem (auch: globalen) Wahnsinn“ in jeder Form. Also zählte ich Eins und Eins zusammen – et voilà ! (…)
 
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BiH ist ein schönes aber sehr gebirgiges Land. Wohl deshalb auch, scheint Radfahren in BiH generell kein Thema zu sein. Wäre da nicht Tihomir Dakic und seine Kollegen/innen vom „Center for Environment“ in Banja Luka. Weit beliebter sind schwere, schwarze Limousinen mit viel Pferdestärken und abgedunkelten Seitenfenstern. Die unzähligen Politiker/innen, Minister/innen und Präsidenten/innen fegen mit Sirenengeheul, Blaulicht auf den vorausfahrenden SUVs der Bodygards zu ihren Terminen übers Land oder vielleicht auch nur ins Restaurant – wer weiss das schon? Mit europäischem Geld hat man gute, breite, schnelle Strassen (aus)gebaut. Für Radwege oder Fahrradstreifen reichte es hat es nicht gereicht. Doch in den eher abseitigen Tälern Wegen, an der Drina an der Grenze zu Serbien oder streckenweise auch an der Neretva lässt sich gut Radfahren. Das touristische Potential des Landes ist kaum entdeckt. Fast jeder 4. Mensch in BiH ist arbeitslos, die wirtschaftliche Situation bezeichnen Fachleute als katastrophal. Das durchschnittliche Monatseinkommen beträgt etwas mehr als 400,– Euro. Das vorhandene Potential im Bereich der Infrastruktur und der Energie vor allem, wird auf 6 Mrd. Euro geschätzt. Es liegt aber brach. Die allgegenwärtige Korruption bis in die höchsten Kreise vergrault Investoren, sagt uns auch der High Representative, der Vertreter der internationalen Gemeinschaft (UNO) in BiH, der österreichischen Diplomat Dr. Valentin Inzko. Sein Diplimatenkollege von der OSZE, Mr. Fletcher Burton, ist neu in Sarajevo und empfängt uns sehr freundlich. Unsere Fragen beantwortet er eher ausweichend mit den Stehsätzen gewiefter Diplomatie, das aber in fehlerfreiem Deutsch.
 
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„Es gibt keine Bosnier in Bosnien. Es gibt nur Serben, Kroaten, Bosniaken“, hatte uns Valentin Inzko in Sarajevo erklärt. Das würde der vielsprachige, quirlige und sangesfreudige katholische Bischof von Banja Luka, Dr. Franjo Komarica, gleich unterschreiben. Allerdings nur in der Analyse. Seit Kriegsende hat er nicht nachgelassen, die Dinge zu ändern, an der Lösung zu arbeiten. Bis 1995 sind – allein aus seiner Diözese – über 70.000 Katholiken vertrieben worden. Etwas mehr als 5000 seien bis dato wieder zurückgekehrt. Sie hätten Schwierigkeiten bei den Behörden, bei der Arbeitssuche und fühlten sich diskriminiert in der Republika Srpska. Das Recht auf Rückkehr werde ihnen vermiest, ärgert sich der Bischof. Sein Generalvikar, Dr. Ivica Kost, ist katholischer Priester, Schuldirektor und Lehrer und kümmert sich auch um die 150 Katholiken/innen in der Pfarre zur Hl. Thèrese von Lisieux am Stadtrand. Vor dem Krieg waren es 2000 Leute. Dann O-Ton Komarica: „Das Unrecht der ethnischen Säuberungen wird toleriert“, streut der Bischof Salz in eine offene Wunde und geht mit scharfen Worten mit der internationalen Gemeinschaft ins Gericht: „Bosnien“ sagt er „ist der Lackmustest für Europa. Wo bleiben die Menschenrechte? Hierorts werden die Opfer bestraft und die Verbrecher belohnt“ sagt er in Richtung der Großmächte. Der Mann spricht klar, offen und direkt, ohne diplomatische Schnörkel – aber an seinem Versöhnungswillen ist nicht zu zweifeln. Er, dessen Mutter von serbischen Soldaten mit einem Messer am Hals aus ihrem Haus verjagt wurde, wie er zu später Stunde erzählt, kämpft für und glaubt an die Versöhnung der Ethnien. 
 
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Wie kann Versöhnung geschehen? Tags darauf hat der Bischof unser T-Shirt mit der Friedenstaube angezogen und wir erleben „seine“ Antwort auf die Frage vom Vorabend: Der 66jährige hat seine Vision einer Europaschule realisiert. Er setzt bei der Jugend an. Hier sitzen muslimische (in der Mehrzahl), serbisch-orthodoxe und (wenige) katholische Schüler/innen lernend in den Klassen. Sie sprechen offen an, wie der Hass auf die ,Anderen‘ allerorten systematisch und kontinuierlich wach gehalten werde. Das Elternhaus und die Politik werden nicht ausgespart. Mit Bitternis in der Stimme, sprechen sie von der Chancenlosigkeit auf ein gutes Leben in ihrem eigenen Land. Sie fliehen ins Ausland.
Die ethnisch-nationalistisch-religiösen Grenzen werden unterlaufen und überschritten – das ist des Bischofs Art nach innen hin zu kämpfen. Komarica hat in Österreich und Deutschland studiert, kennt die Welt, ist vertraut mit dem politischen Parkett in Wien, Paris, Brüssel und Washington. Er will EIN Bosnien und weiss, dass das der einzige Weg nach Europa ist – und er ist mit Versöhnungsgesten gepflastert! Von selber wird das nicht werden, also provoziert er Versöhnung – es geht nicht anders!

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Hvala, Gospodina Biljana! – an einem sonnigen Morgen in Mostar haben Sie uns einen Blick die Zukunft geschenkt. Im Sandkasten des Integrativen Kindergartens konnten wir sehen, wie Gänseblümchen durch den Asphalt wachsen. In Mostar ist alles noch ein wenig komplizierter. Die Stadt leidet an unsichtbarer Zerklüftung. Es wäre wunderbar, wenn Ihr Beispiel – das persönliche und das Ihres Projektes – Nachahmer/innen fände. Im ganzen Land BiH. Der Betrieb dieses Projektes mit 40 Kindern, von denen ein kleiner Teil (zwei Kinder pro Gruppe bei einer Gruppengröße von 20 Kindern) spezielle Unterstützung braucht, kommt mit etwa 100.000,– Euro pro Jahr aus. Das Geld kommt aus Österreich, was keine Rolle spielt, aber erwähnt sein soll. Die Leiterin, die schöne Frau Biljana, vier fest angestellte Pädagoginnen und mehrere Therapeuten/innen werden davon bezahlt. Von den Eltern müssen 80,– Euro monatlich kommen. Viel Geld – oder auch nicht, wenn mann bedenkt, was dabei herauskommt. Die Kinder werden und bleiben (vielleicht) Freunde fürs Leben. Eine reelle Chance, oder? Doch die Wirklichkeit in Mostar führt den Gedanken ad absurdum. Es ist so, dass die potentiellen Freunde/innen sicher nicht in dieselbe Schule kommen, sondern in jene, die für ihre Ethnie vorgesehen ist. So das Gesetz. Damit aber ist der spielend gewonnene Vorsprung wieder eingeebnet. Garantiert ist, dass „Ethno-Teufelskreis“ ungebremst seinen Lauf nimmt. Offenbar: Es geht nicht anders! Und wir bekommen Kekse, Kaffe, Tee und Wasser serviert. Die Kinder verspielen derweil im Hintergrund ihre Zukunft. Geht das wirklich nicht anders? Frau Bilijanas Treue zu den Gegebenheiten ruft einen Gedanken von Simone Weil wach: Man müsse, meinte sie, manche Dinge so lange betrachten, bis das ihnen innewohnende Licht hervorbreche.

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Wo Brücken sind, sind auch Abgründe. Und in BiH gibt es sehr viele Brücken. Wer also Brücken sucht oder welche bauen möchte, muss sich auch um die Abgründe kümmern. Dort findet sich auch das Leid. Nahe am letzten aller möglichen Abgründe, dem Tod. Das Leid ist ohne Worte, ein Klang vielleicht, ein Seufzen, ein Schrei manchmal, ein ‚lebendes‘ Bild auch. Es will die Stille und nistet sich ein – im Schweigen, ist sprachlos. Es ist wie ein Wunder, wenn es Worte findet oder gar eine Geschichte.

Wir haben viele Leidensgeschichten gehört – nicht nur jene von Hasan, dem bosnischen Muslim, angesichts der „8732 …“- Jahr für Jahr werden es mehr – schneeweissen Stelen in Potočari. Und wir haben schweigend die Fotos in der ehemaligen Batteriefabrik betrachtet und den Film und die Namen gelesen und gehört, bis die Tränen stiegen – die Vorboten ungeahnter Möglichkeiten des Handelns, der Befreiung vielleicht oder gar Heilung. Anderntags – etwas nördlicher in Bratunac – stehe ich nicht mehr auf dem marmornen Boden einer Gedenkstätte sondern sitze in einem Plastiksessel eines Cafés. Ich höre zwei serbischen Jugendarbeitern zu, die die Geschichte des Vortages im Lichte ihrer Ein- und Ansicht neuerlich erzählen. Es ist sehr hartes Brot, das es – auch hier – zu kauen gibt. Andererseits aber, nach einer nur 20tägigen Fahrradreise voll von Erlebnissen, Erfahrungen und Beobachtungen in BiH – fast schon wieder „normal“ – ein erschreckender Gedanke, und beschämend gar, dass einem das „de profundis…“ zur Gewohnheit wird?

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Brückenbauer/innen und Brückensucher/innen: Es sind Leute wie die beiden Serben in Bratunac oder Adnan Hasanbegovic und Tamara Smidling in Sarajevo die in den „Center of Non-Violent Action“ (CNA) den menschlichen Abgründen von Opfern und Tätern entlang gehen. Die Teilnehmer/innen ihrer Friedensseminare sind bereit, in ihre Abgründe zu schauen, dennoch aufmerksam zu sein, um den guten Grund für einen Brückenschlag in ein neues Leben im Frieden erkennen zu können.

Die Provokateure/innen der Versöhnung.Es sind Leute wie Jasminka und ihre jugendlichen, Frau Biljana und ihre Kollegen/innen in Mostar und Bischof Komarica in Banja Luka die sich der Realität stellen und aus einer inneren Kraft heraus nicht bereit sind, von ihrer Vision zu lassen. Sie provozieren das Gute in den Menschen und übernehmen Verantwortung in der Gestaltung einer gemeinsamen Zukunft.

Eine Politik im Dienst der Menschlichkeit. Es sind Leute wie Franjo Komarica oder die Mädchen und Jungen in Gornji Vakuf, Menschen, die aus ihren Überzeugungen keinen Hehl machen und sich einbringen für das Wohl im Gemeinsamen und für die Menschlichkeit im besonderen. Mit Herz und Verstand, Glauben und Wissen, Handeln und Beten, Tun und Lassen werden sie es sein, die – über alle Ein- und Ausgrenzungen hinweg – der sozialen Gerechtigkeit und damit dem Frieden auf allen Ebenen zum Durchbruch verhelfen werden.

Das alles, lese ich in meinen Erlebnissen und Erfahrungen, ist keine Frage der Zeit. Die Zeit ist immer reif, die Frage ist, wofür? Und bis zur Klärung dieser Frage, wird es – nicht nur in BiH – geraten sein: Strampeln – für Versöhnung und Frieden!

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Dieser Text ist im Sommer 2012 für die CAHIERS MIR – die Quartalsschrift von „Mouvement International de Reconciliation“ (MIR), den französischen Zweig des Internationalen Versöhnungsbundes – geschrieben worden.