Der Chefredakteur des Vorarlberger KirchenBlattes, Dr. Walter Buder, hat ein physisch-spirituell undenkbares Ding geschafft: Vom Ostermontag, 13. April, bis 20. Mai 2009 ist er mit einer Gruppe von 17 Gleichgesinnten vom Wiener Rathaus bis zum Damaskus-Tor am Rand der Altstadt Jerusalems geradelt. Jetzt erzählt er über die Ankunft im „armen, reichen, schönen Jerusalem” und spannt seinen essayistischen Bogen von inniger Freude bis zu den Worten des Papstes Benedikt XVI., die er anlässlich seines Besuches in der „Hauptstadt der Welt“ gefunden hat.
Wir sind von Norden her gekommen. Tags zuvor hatte es uns auf der Suche nach einem Quartier nach Netanya verschlagen. Die abendliche Brise verriet das Meer. Die letzte Nacht vor dem Ziel – der Schönen auf dem Berg, der Leuchtenden, der Heiligen, der Stadt der Städte. Von Null (Meter über dem Meer) auf Sechs- bis Achthundert. Hinauf, eben. Auf Spuren, die seit Jahrtausenden gelegt sind. So ziehen sie durch die letzten Gedanken vor dem Einschlafen – die Patriarchen, Propheten, die Heiligen und Wahnsinnigen, die Geschäftemacher und Kriegstreiber, die von Gier und Hass verkrümmten wie die von Heil und Schönheit und inniger Freude hingerissenen, die radikalen Realisten und die phänomenalen Träumer im Landstrich, dem Gott selbst unvergleichliche Referenzen erwiesen hat. Juden, Christen und Muslime aller Epochen singen in ihren Liedern davon, legen Bekenntnis davon ab. Das Land und die Stadt bergen für die Christen die Schauplätze der Ereignisse im Leben, Sterben und der Auferweckung des Juden Jesus und seiner einmaligen weltgeschichtlichen Sendung und verdienen gerade so eine ganz besondere und exquisite Devotion. Morgen also, Jerusalem…
Dieser Augenblick ist geworden. Wie alles, was in die Zukunft reicht. Auch an diesem einen Tag von der Sorte „Tag der Tage“ für mich. Wir sind durch die Ebene und das steinige, felsige, judäische Hügelland gekommen. Das aber ist – nicht erst seit gestern – von Israel besetztes Land. Palästinenserland. Kriegsgebiet. Okkupationsland. Rund 30 Kilometer Korridor. Eine Autobahn. Die Checkpoints. Die schönen, neuen Mauern und die mit schreienden Graffitis versprühten alten, die wir in Bethlehem gesehen haben. Tribut einer politischen Realität. Tribut für den verunsicherten, zuinnerst brüchigen und ewig verwundeten, unvernarbten Daseinsschmerz Israels, den dunkeläugige, unrasierte, schwarzhaarige, junge Männer und wunderschöne, starke junge Frauen wach halten. Sie steckenn in kugelsicheren Westen, tragen superleichte Maschinengewehre, revolverbestückte Gürtel und die im Asphalt schlafenden Stahlkrallen – das alles flüstert vom Stolz, dem Eigenwillen und den anscheinend unerschöpflichen Geldquellen, aus denen sie schöpfen können, um die Konfrontation mit der tagtäglichen, allgegenwärtigen Furcht zu bändigen, den (vermeintlichen?) Feind niederzuhalten und die Urangst vor der Auslöschung in superkaschierte Normalität zu verkleiden. Ist man deswegen Pilger/in?
Jerusalems Herz ist so groß wie die Welt. Das Leiden der Zeiten ist hier beherbergt. Wohnt in den Steinen, quillt aus allen Fugen der Mauern und Straßen. Wir sind früh am Morgen auf den Ölberg gegangen. Still sind wir gewandert, das Stephanustor hinaus, hinunter ins Kedrontal und dann wieder hinauf. Es war nicht mehr Nacht und der Tag hatte noch nicht begonnen. Eine kleine Stunde am oberen Rand des jüdischen Friedhofes, jenem Ort, wo der Messias, wenn er kommt, auftauchen wird. Die neue Welt wird in Jerusalem ihren Anfang nehmen. Die neue Welt der Christen hat hier ihren Anfang schon genommen. Und jeder neue Anfang in Jerusalem ist immer auch der Anfang vom Ende irgendeiner alten Welt. Meiner, deiner, unserer, ihrer – das spielt wohl keine Rolle.
Während die ersten Sonnenstrahlen meinen Rücken wärmen und wir gleichzeitig die goldene Kuppel des Felsendomes und die hellweiß zu leuchten beginnende Stadtumfriedung (auch eine Mauer) erreichen, erahne ich die erste, die unvergessliche Liebe eines jeden Gläubigen. Ich verstehe im Augenblick, dass wir sie immer (schon) ganz und gar besitzen, nie mehr hergeben, nie mehr teilen wollen– und, eben, dass das gerade so nicht läuft. Die Ruhe vor dem Sturm des Tages und der Friede, so tief, wie nur das Auge im Hurrikan sein kann – Heil und Unheil, Segen und Fluch – Jerusalem, eben – wahrhaftig und wirklich.
Zum Damaskustor – es ist unser Zielpunkt für die Ankunft in Jerusalem – führen großzügige Straßen durch belebte Viertel. Es hieß früher Nablus-Tor. Aber nach Nablus – die Stadt liegt in den Palästinensischen Autonomiegebieten – hat man uns nicht hinein gelassen. Man hätte uns dort erwartet, tags zuvor. Palästinensische Familien hätten uns Obdach gegeben. Der Checkpoint bei Jenin war für diesmal und für uns das Ende der Welt, eine verschlossene Tür. Sie sagten einfach: NO. Ohne Rufezeichen. Gesichtslose Nachricht. Per Mobiltelefon. Okkupantensprache. Da half kein Diplomatengetue, kein Geraschel mit vielfach gestempelten und vorbereiteten offiziellen Papieren, kein Botschaftsgemache. Nur das ächzende, krächzende Gequietsche der Stahlrohrgittertür antwortete auf unser Friedenszeichen. Wie ein Echo unerhörter Zuneigung. Bedroht Freundschaft den Status quo? Gegenseitiges Wohlwollen, offen vertreten, ist verdächtig? Das Risiko des Friedens, gewöhnlichen, menschlichen Miteinanders ist zu hoch? Oder ist es die unkalkulierbare Sprengkraft möglichen Verständnisses, einer Begegnung? Hier ist Freude subversiv! Wir wissen: eine lange, verzwickte Geschichte verlorener, er- und verlernter Gegenseitigkeit. Oder eben, der Wahrheit die Ehre- verordnete Ungegenseitigkeit, gezielte Ungerechtigkeit, ständig wechselnde, momentane Auf-, Durch- und Unterbrüche verhindern systematisch auch nur den Gedanken an friedbereite Entspannung.
Armes, reiches, schönes Jerusalem. Am 21. Mai wurde gefeiert: Jerusalem-Day. Warum? Am 7. Juni 1967 annektierte Israel die östlichen (arabischen) Stadtgebiete. Heute: Beflaggte Häuser, massenweise junge Menschen, die sich – in Viererreihen an den Schultern gefasst, Parolen skandierend und Lieder schreiend durch ‚ihre‘ Altstadt wälzen. Keine Rücksicht. Auf nichts. Und niemand. Sie werden von ihren eigenen Leuten bewacht, die so die anderen Bürger Jerusalems vor ihnen beschützen. Gleichaltrige, hochgerüstet mit dem Outfit tödlich bereiter Gewalt, schwitzend, die Waffen im Anschlag, mit weit geöffneten, nach oben und vorne und rückwärts gerichteten Augen und halboffenen Mündern, wachsam auf- und wahrnehmend ziehen die Pulks vorbei an unserem Quartier, dem Austrian Hospiz, die Stationen der Via Dolorosa entlang.An der 5. Station des Christenkreuzweges, wo Simon von Cyrene Jesus das Kreuz tragen half, kommt es zum Stau. Solcher Lärm lässt an Schlimmeres denken und erinnert den europäischen Christen an dunkle Zeiten …
Noch nie in meinem Leben bin ich so erwacht. Nach 3.710 Kilometer bin ich mit 17 jetzt guten Bekannten und Freunden/innen über 23.118 Höhenmeter in rund 40 Tagen durch 7 Länder mit meinem Fahrrad gefahren. Ich gebe es zu: Um des lieben Friedens willen. Und – gleichbedeutend – um zu erfahren, was Pilgern bedeutet, was es bedeutet, Jerusalem zu sehen und zu spüren. Gedanken brauchen viel, viel mehr Zeit und Kilometer, um das nährend-befreiende Weizenkorn (das wohl nicht ohne den Glauben, die Religion wachsen wird!) im unübersehbaren Berg von politisch-religiöser Streu auch nur zu ahnen.
Päpstlicher als der Papst. Papst Benedikt XVI. hat im Rahmen der Empfangszeremonie seines Nahost-Besuches am 11. Mai 2009 genau die rechten Worte für (m)einen angemessenen Schlusssatz gefunden, einen Gedanken, der die Zeiten und Räume überbrückt und wesentlich konzentriert. Wie er, sehe ich mich „…in einer langen Reihe christlicher Pilger, die zu diesen Küsten kamen, eine Reihe, die weit zurück in die größten Jahrhunderte der Kirchengeschichte reicht, und die, ich bin mir sicher, weit in die Zukunft reichen wird“. Und diese tagtäglich anbrechende Zukunft vorwegnehmend, wage ich – schon heute, hier und jetzt – einen einen anfänglichen Gedanken an den Schluss zu setzen: Frieden in Jerusalem, bedeutet Frieden für die ganze Welt!