Soeur Agnès Bordeau im Garten des haitianischen Mutterhauses in Port-au-Prince, nach ihrer Freilassung Anfang Mai 2021. _ © Valerie Baeriswyl

„Christus hat uns nie verlassen“

Christus war immer unter uns, Er hat uns nie verlassen!“

Die Erfahrung als Opfer einer Entführung ist einschneidend – hinterlässt tiefe Spuren an Leib und Seele. Zweieinhalb Jahre war Schwester Agnès Bordeau (81) von der Kongregation der „Schwestern der Vorsehung von La Pommeray“ in Haiti. Nach vielen Jahren als Missionarin in Mittelamerika, bekam sie ihre neue Destination. Sr. Agnès ist am 11. April in der Nähe der Hauptstadt Port-au-Prince mit acht anderen Personen entführt und nach 20 Tagen Gefangenschaft unter härtesten Bedingungen freigelassen worden. Derartige Überfälle mit Geiselnahme und Lösegeldforderungen (im vorliegenden Fall 1 Mill. US-Dollar) gehören in Haiti zum Alltag. Am 1. Mai kamen Sr. Agnès und ihre Leidensgefährten/innen nach Interventionen der französischen und amerikanischen Diplomatie sowie der örtlichen Behörden, frei. Unverletzt aber stark geschwächt, ist seit dem 1. Mai im Mutterhaus ihrer Gemeinschaft in Port-au-Prince. „Ich kann wieder ruhig schlafen“, sagt sie im Interview und bezeugt – ohne viel Aufhebens und in bestechender Einfachheit – eine kraftvolle, pfingstliche Erfahrung. (wb)

Interview mit Sr. Agnès Bordau von Youna Rivallain (für La Croix)

_Schwester Agnès, Sie wurden am 30. April freigelassen. Was ist da konkret passiert?_
Sr. Agnès: Wir waren zu Zehnt in einem Auto, unterwegs zur Amtseinführung eines jungen Priesters in der Nähe der Hauptstadt Port-au-Prince. An einer Straßensperre wurden wir angehalten. Junge, bewaffnete Männer, leiteten uns in eine Seitenstrasse und wollten dann haben, was wir hatten: Geld, Telefon, Schmuck. Man brachte uns dann in einen Wald, wir wussten nicht, wo wir waren. Wir wurden ‚gebeten’ auszusteigen, ein Teppich aus Kartons war für uns bereitgelegt. Die Schuhe wurden uns genommen und man gab uns drei Matratzen – für zehn Personen, mitten im Wald. Wir begriffen, dass wir hier wohl eine Weile bleiben würden.

_Wie haben Sie Ihre Gefangenschaft erlebt?_
Sr. Agnes: Wir haben dreimal den Ort gewechselt: der Wald, dann ein Hütte mit 2 Räumen und ein winzige, schäbige Ein-Zimmer-Absteige. Wir erfuhren nichts von der Außenwelt. Wir waren ständig von Bewaffneten bewacht. Mit der Zeit wuchs ein Vertrauen mit ihnen. Es sind junge Haitianer, die aus dem Gefängnis kommen, keine Arbeit finden und sich so einer Bande anschließen. Einer erzählte, dass er getauft ist, seine Erstkommunion hatte …und Ministrant gewesen war. Mit der Zeit gab es kleine Aufmerksamkeiten für uns, wir fanden morgens Mangos an unserer Tür, man grüßte freundlich … Sie teilten unsere Lebensbedingungen. Sie waren nicht gewalttätig, wir wurden respektiert. In meinem Herzen ist kein Hass auf sie. Ich bete, der Herr möge ihre Herzen öffnen, weil sie nicht wissen, was sie tun.

_Was hat sie aufrecht bleiben lassen?_
Sr. Agnes: Die Gruppe der Geiseln beschloss, sich ‚Bethaniengruppe‘ zu nennen, denn wie in Bethanien war Christus in unserer Mitte, unserem Elend, unserer Armut. Er hat uns nie verlassen! Wir hatten eine Bibel. Zuerst las jede/r für sich, später lasen wir gemeinsam, auf den Matratzen sitzend, haben wir die 150 Psalmen und das Johannesevangelium gehört.
Die Wachen waren Woodoo-Leute, sie fanden heraus, dass wir die Bibel hatten und nahmen sie uns für 2 Tage weg. Am Abend beteten wir den Rosenkranz im Dunkeln. An den letzten Abenden baten wir unsere Wachen um eine Kerze und Streichhölzer, und wir beteten bei einer brennender Kerze. Wir spürten die Kraft des Gebets, der Gegenwart Gottes unter uns. Es erinnerte mich an die Geburt des Herrn: Wie das Kind Jesus waren wir an einem elenden Ort, aber das Licht Gottes war da.

_Was hat diese Erfahrung mit Ihrem Glauben gemacht?_
Sr. Agnès: Zuerst fragte ich: Warum, Gott? Aber mir wurde klar, dass ich die Wahl hatte, diesen schmerzhaften Moment bewusst mit dem Herrn zu leben – oder ihn abzulehnen. Ich hatte zwar keine äußere Freiheit, aber ich hatte die Freiheit, zu lieben, sie in Gemeinschaft mit Christus zu leben, mit all den Gefangenen der ganzen Welt.
Ich habe mich entschieden, den gegenwärtigen Moment zu leben und ihn im Gebet anzubieten, damit dieses Land zu einem Leben in Würde findet. Es war eine starke spirituelle Erfahrung. Wir spürten eine innere Kraft, die nicht von uns kommen konnte. Es war die Kraft derer, die uns in ihren Gebeten trugen.

_Wie sind Sie diesem Land Haiti verbunden?_
Sr. Agnes: Vor zweieinhalb Jahren, nach 25 Jahren in Mittelamerika, bot mir meine Gemeinschaft an, auf Mission nach Haiti zu gehen. Mein ‚Ja‘ war formal, aber jetzt möchte ich es konsequent mit Leben erfüllen. Aber die Entführung hat mich körperlich geschwächt und ich habe das Gefühl, eine Unterbrechung zu brauche, eine Entscheidung zu treffen. Das wird bei uns aber gemeinschaftlich entschieden.
Ich liebe Haiti, das Land leidet, das Leiden hat sich eingewurzelt und scheint keine Lösung zu finden. Meine Aufgabe sehe ich darin, mit den Einwohnern zu sein, mit zu leiden, mit zu beten, um zu versuchen, ihre Würde wieder herzustellen. Es geht um ein endgültiges JA. Ich bin Missionarin mit Leib und Seele und aus ganzem Herzen. Das bedeutet, ein Abenteuer zu leben – bis zum Ende.

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Das Interview wurde für La Croix von Youna Rivallain geführt und ist in der Online-Ausgabe vom 06.05.2021 erschienen. Übersetzung / Redaktion: Walter L. Buder. Mit freundlicher Genehmigung der Redaktion von La Croix.
vgl. auch „Tiroler Sonntag“ vom 27. Mai 2021