©WLB (2019, Eingang zum Rathaus in Lucca/I

Eine Verlockung zum Tun in der Wahrheit

Wie die Dinge liegen, ist eines klar: Der Sündenbock-Mechanismus ist eine Art Superkleber, wenn es um den „Zusammenhalt“ (in) der Gesellschaft geht. Unsere Welt strotzt nur so von Gewalt – und wir sind so an sie gewöhnt (worden), dass wir uns – wie aufs Heftigste Verliebte – nicht vorstellen können, ohne sie zu leben. Die Verantwortung für die Opfer, die sie unaufhörlich fordert, laden wir ihm auf, verjagen ihm und haben dann eine Zeitlang Ruhe. Aber eben: Nicht ein für allemal – die Gewalt-Spirale dreht sich weiter …

Aber manchmal (wie in der vergangenen Woche in Wien) ist die Gesellschaft mit dem blindwütigen und bluten Irrsinn der Gewalt konfrontiert. Und – im Augenblick noch des Geschehnisses – kommt die Unterbrechung der Gewaltspirale ins Spiel: junge Leute holen einen  Polizisten aus dem Kugelhagel. Es scheint, als ob neben der gewaltsamen, tödlichen Spur sofort eine neue gelegt würde, eine die herausführt aus dem verblendeten Hassen: Die spontane Hilfe, der Reflex der Güte, der gesegneten Vernunft, der augenblicklich im Geschehnis aufblitzt, ist ebenso wirklich und wirksam wie die Gewalt, der sie momenthaft entgegenwirkt.

© Verlag Blanvalet

Und – o Wunder (?!) – als ob es einer Nachdenkpause, einen mehrstündigen Reflexionsphase bedürfte, scheint sich die Güte ihren Weg zu bahnen. Ein zwei Tage später liest man eigenartige Sätze und Gedanken, die allen Bildern und Wörtern zuwider laufen: „Meinen Hass bekommt ihr nicht“ hat Antoine Leiris geschrieben nach dem schrecklichen Töten im Pariser ‚Bataclan‘. Sein Buch war ausdrücklich als höchstpersönliches  ‚Echo“ auf den Tod seiner Frau zu lesen, seine Authentizität und die menschliche Tiefe – in der sein Zeugnis jede/n Leser/in) berührte –   hat nicht nur der Gewalt widersprochen sondern auch offen eingestanden, welche Kraft zum Leben aus der angenommenen. Trauer kommt.

Oder: „Legt die Waffen nieder…setz Dich her zu mir“ – sind Worte und Gedanken einer Frau, deren Schwester dem Attentäter zum Opfer fiel. Ihre Gedanken und Worte kommen aus einer tiefen Trauer, sie sind wie aus ihr heraus verwandelt und können sich so so, wie erlöst, dem todbringenden Hass entgegen stellen, die Gewaltspirale Brechen und dem Wunsch nach einem Leben friedlichem und verbindlichem Miteinander Ausdruck verleihen. Wer nach Verletzung und erlebtem Leiden  zu solchen Gedanken und Worten fähig ist – legt einer anderen Lebensweise, einem anderen, oft verborgenen Leben, die Spur.

Ich gebe zu, dass ich mit Vorliebe derartige Gedanken und Worte dieser Art sammle. Sie werden als Antwort, als Echo auf Gewalt in jeder Form auf der ganzen Welt zu jeder Zeit immer wieder ausgesprochen. Manchmal erreichen sie mich nicht aus tausend Gründen und manchmal erreichen Sie mich zu spät, um Tage, um Jahre, um Jahrzehnte. Niemals aber scheinen sie ins Leere gesagt. Ihr Echoraum ist die menschliche Sehnsucht nach einem Leben ohne Gewalt, das Leben selbst birgt  sie. Sie sind Belege und Beweise, dass gewaltfreies Denken und Handeln nach wie vor und trotz allem unter den Menschen in jeder Gesellschaft lebendig sind.

Wichtiger aber als die Worte und geschriebenen Bilder und Gedanken – sie sind nur die Boten, tragen sie durch die Zeiten – sind die ihnen zu Grunde liegenden Haltungen. Es ist kein Fehler, den Aussagen zu applaudieren und sie zu ‚liken‘ – damit sie aber im alltäglichen Getümmel der Gewaltsamkeit nicht unter- oder gar verlorengehen, braucht es das konkrete Engagement in der Tat, einer/es jeden von uns, die in diesem Geist und Sinn bereit ist: Der Gewalt in jeder Form zu widerstehen! In entscheidend verschärfter Form scheint das für jene Menschen Bedeutung zu haben, die ihr Leben in der Spur des Jesus von Nazareth nachgehen.

„Ich zögere nicht zu sagen, dass wir einen Kampf führen gegen diese Ideologie des Islamismus. Es ist ein weltweiter Kampf, und Muslime sind gleicherweise an ihm beteiligt. Jenen, die ihren muslimischen Glauben leben wollen, tut das wirklich weh. Vielleicht wäre es notwendig, dass noch mehr Muslime, in unserem Land und darüber hinaus, das mit Entschiedenheit sagen könnten. Die Gewalt ist in den Herzen aller Menschen, meines eingeschlossen. Auch Christen waren gewalttätig und haben ihren Glauben benutzt, um Herrschaft und Zerstörung zu rechtfertigen. Die Transformation, die Verwandlung der Gewalt ist eine Arbeit, die jede/r von uns bei sich selbst zu erledigen hat.“ (Es lohnt sich, das komplette Interview zu studieren). 

Das ist die Stimme von Erzbischof Eric Moulins-Beaufort, dem Präsidenten der französischen Bischofskonferenz, die sich im jahrtausendealten Chor der Gewaltfreiheit findet. Es ist eine der Stimmen der Zukunft, die sich auch in der Gegenwart – Hier und Heute (!) – zur Probe eingefunden haben. Der Gedanke gilt meiner Ansicht nach weit über die aktuelle Situation hinaus und wenn auch im gegenwärtigen Bezug der Islamismus angesprochen ist. 

Wie die Dinge liegen, sind diese drei Gedanken- und Wortspuren – nicht nur zum nachLESEN gedacht. Wir – die Gesellschaft er Gegenwart – müssen schnell lernen, solchen Tönen, den Klängen der Gewaltlosigkeit, einer profilierten Spiritualität und einer Art von gesegneter (nicht unbedingt getaufter!) Vernunft den Vorrang zu geben – in jedem Fall, zu jeder Zeit – vermutlich auch dann, wenn es weh tut. Das alles ist im Sinne der Inspiration zu verstehen – einem einladenden Impuls, einer Verlockung vielleicht und auch Verführung zum Tun in der Wahrheit._